Der Zufall wollte es, dass ich heute vor genau zehn Jahren mit einer Gruppe von Freunden und Studienkollegen auf Urlaub in New York war. Die folgenden Bilder, und weitgehend unverändert auch die Texte, stammen aus dem Backup eines längst verschollenen Webalbums, das ich nach unserer Heimkehr für meine Fotos erstellt hatte. Der heutige Jahrestag hat mich endlich dazu bewogen, diese Erinnerungen dem Vergessen zu entreißen – auch dem eigenen – und euch hier von einem zehn Jahre jüngeren Ich schildern zu lassen, wie das „damals“ war, aus seiner Sicht…

Für diesen Tag hatten wir einen Besuch an der Börse geplant und uns war geraten worden, möglichst zeitig hinzugehen.
Dieses Bild bot sich uns, nachdem wir die Subway an der Haltestelle Wall Street verlassen hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch keine Ahnung, was 18 Minuten zuvor geschehen war.

Nicht zu sehen ist das Glitzern tausender kleiner Lichtpunkte in dieser Wolke. Es ähnelte stark jenen Bildern, die man von amerikanischen Konfetti-Paraden im Kopf hat.
Im allerersten Moment hielten wir daher auch eine größere Feier oder Werbeaktion für möglich.

Es war ein dumpfer Knall zu hören. Am Hochhaus vor uns, das uns den Blick verstellte, war zu sehen, wie die Fensterscheiben erzitterten. Leute begannen, selbst hier - ca. 500 m vom WTC entfernt - zu laufen. Hier verlor ich auch meine Freunde aus den Augen. Die Situation beruhigte sich aber relativ schnell wieder.

Minuten später wurden mir die glitzernden "Konfetti" zu dutzenden vor die Füße geweht. Es waren die Akten, Briefe und Notizen jener Menschen, die da oben gearbeitet hatten.
Betroffen und entsetzt hielten einige Passanten die angekohlten Zettel in der Hand. Bis dahin hatte ich die Ereignisse fast wie in einem Film wahrgenommen. Nun war mit einem Mal die ohnehin geringe Distanz, der Abstand zum Geschehen auf ein kaum mehr erträgliches Maß reduziert. Schlagartig wurde mir bewusst, dass es hier nicht nur um das vordergründig sichtbare, brennende Gebäude aus Stahl ging - dass dort, wo diese Blätter herkamen, kaum jemand überlebt haben konnte, und viele andere Menschen sich in Lebensgefahr befinden mussten.

Maiden Street, etwa 800 Meter südöstlich vom WTC. Der brennende North Tower I. Links daneben der aufsteigende Rauch vom ebenfalls brennenden South Tower II - eine halbe Stunde vor seinem Einsturz. Auf Tower II befand sich auch die Aussichtsplattform, die wir drei Tage zuvor noch besucht hatten. Sie war zum Zeitpunkt der Anschläge noch für Touristen geschlossen.

Die Augen tausender Passanten und von Millionen Fernsehzuschauern sind inzwischen auf die brennenden Twin Towers gerichtet.
Nach diesem Bild habe ich ein freies Telefon gesucht, um nach Hause zu telefonieren, möglichst bevor dort die Nachricht von den Anschlägen eintrifft. Nach längerer Suche habe ich in der Eingangshalle eines Wolkenkratzers ein Telefon mit überschaubarer Warteschlange gefunden. Zuhause wusste noch niemand von den Ereignissen, der Schock war entsprechend groß.
Gerade als ich noch ein paar beruhigende Worte sprechen wollte - dass es jetzt eh vorbei sei und so - brach hinter mir ein Höllenlärm los. Ich drehte mich um, hin zu jenem Ausgang, der dem WTC zugewandt war und sah eine Horde Menschen in Panik auf die viel zu kleinen Drehtüren zustürmen - hinter ihnen eine gewaltige Staub- und Aschewolke. Daraufhin kürzte ich das Telefongespräch auf ein kurzes "mir geht's gut, aber ich muss jetzt auflegen" ab. In Wahrheit hatte ich meine Zweifel, ob es mir in absehbarer Zeit wirklich immer noch gut gehen würde.
Nachdem ich den ärgsten Andrang beim anderen Ausgang abgewartet hatte, ging ich zurück auf die Straße und versuchte in Erfahrung zu bringen, was eigentlich geschehen war. Von Passanten hörte ich, dass ein drittes Flugzeug in die Tower gekracht sei, 16 seien insgesamt entführt worden. Gerüchte, wie wir alle wissen, aber die Wahrheit war ohnehin kaum weniger schlimm. Ich starrte eine Zeit lang nur mehr auf die gewaltige Staubwolke, die jede Sicht versperrte und fürchtete, aus dieser undurchdringlichen Wand könne jeden Moment das nächste Flugzeug herabstürzen.

Acht Minuten nach Einsturz des South Tower II. Unvorstellbare Menschenmassen strömen weg vom Qualm, hin zu den Brücken, die den East River Richtung Brooklyn queren: der Brooklyn Bridge, der Manhattan Bridge und sogar zur mehrere Kilometer entfernten Williamsburg Bridge.

"... aber hier stirbst du vielleicht!'", dachte ich bei mir. Das Bild ist qualitativ ziemlich schlecht. Trotzdem darf es hier auf keinen Fall fehlen, denn für mich verbinden sich damit jene Minuten, in denen ich reale Todesangst hatte:
Nach einem kilometerlangen Fußmarsch, vorbei an Brooklyn und Manhattan Bridge - Polizisten hatten davon abgeraten, diese Brücken zu nehmen - waren wir endlich bei der Williamsburg Bridge angelangt. Nun sind diese Brücken aber so hoch, dass selbst Ozeanriesen unter ihnen hindurchfahren können. Das bringt es mit sich, dass eine solche Brücke nicht am Flussufer beginnt, sondern schon weit über einen halben Kilometer vom Ufer entfernt. Viele hätten nur allzu gerne diesen Weg abgekürzt. Diese Möglichkeit schien ein Gerüst zu bieten, das für Restaurierungsarbeiten an einem der uferseitigen Stützpfeiler angebracht worden war. Es schien nicht abgesperrt zu sein und machte einen stabilen, sicheren Eindruck, außerdem hatten sich bereits zahlreiche Leute auf den Weg nach oben gemacht. Dies verleitete mich dazu, den Weg ebenfalls über dieses Gerüst abzukürzen.
Ein Riesenfehler wie sich schon wenige Stufen später herausstellte. Nach oben hin begann das Gerüst, das wohl nur für wenige Bauarbeiter und nicht hunderte Menschen ausgelegt war, immer mehr zu schwingen. Die Leute begannen unruhig zu werden. Aber es gab kein Zurück mehr, da immer mehr Menschen nachdrängten. Fast jeder behielt die Befestigungsbolzen im Auge.
Meine größte Angst war, dass die Menschen plötzlich in Panik geraten könnten. Diese Erschütterungen hätte die Konstruktion dann nie und nimmer ausgehalten. Weiter unten schrie ständig jemand "move on!". Vorne ging's aber nur langsam weiter, weil auf der Brücke ein "Loch" überstiegen werden müsse - so hieß es von weiter oben. Auch das noch! Unweigerlich dachte ich an die Spalten zwischen den Richtungsfahrbahnen auf österreichischen Autobahnbrücken, wo schon einige Menschen abgestürzt waren.
Die schlimmsten Minuten waren jene, als ich ganz oben kurz vor dem Übergang zwischen Gerüst und Brückenpfeiler stand und vor mir nichts mehr weiter ging. Das rettende "Ufer" war im wahrsten Sinne des Wortes zum Greifen nah, aber auch die Schwingungen des Gerüsts waren hier am stärksten zu spüren.
Endlich ging's wieder voran. Der Moment, als ich wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, war für mich der befreiendste meines bisherigen Lebens. Auch das "Loch" stellte sich zum Glück nicht als klaffender Spalt heraus, sondern nur als eine ca. einen Meter tiefe Senke zwischen zwei Betonträgern.
Später am Abend fürchtete ich noch längere Zeit, dass das Gerüst in den Nachrichten vorkommen könnte. Gott sei Dank scheint die Konstruktion gehalten zu haben.

An fast jeder Straßenecke stand ein Auto mit laut aufgedrehtem Autoradio
Diese Audioaufnahme entstand hier.
Ich bin sicher, ich habe vor Ort viel länger gebraucht, das Ganze zu realisieren, als viele der Millionen Menschen, die die Ereignisse im Fernsehen mitverfolgt haben.
Drei Tage vor seinem Einsturz waren wir noch selber auf dem Südturm. Haben uns im 107. Stock den simulierten Heli-Flug über Manhattan gegeben. Die Greenbox gesehen, vor der Touristen sich ablichten ließen, um übergroß in Souvenirbilder einmontiert zu werden, wie sie scheinbar auf den Dachkanten der Türme balancieren oder mit lachendem Gesicht von ihnen herabfallen. Haben unsere Nasen an die vom Boden bis zur Decke reichenden Fensterscheiben gedrückt, so dass uns nur mehr das Plexiglas vom 400 Meter tiefen Abgrund trennte. Auf der Plattform ganz oben die unglaubliche Aussicht genossen. Wir blieben vom späten Nachmittag bis zum Abend, um auch die Lichter der Stadt sehen zu können.
Unten am Plaza habe ich noch ein letztes Mal hochgesehen. Diese beiden gewaltigen Tower gleichzeitig im Blick gehabt. Ich erinnere mich, dass ich den WTC-Plaza teilweise rückwärts gehend verlassen habe, immer wieder staunend zurücksah.
Es war unvorstellbar, dass geschehen konnte, was geschehen war. In Reiseführern war von einem Flugzeug der US-Luftwaffe zu lesen, das gegen das Empire State Building geflogen war, ohne größeren Schaden am Gebäude zu hinterlassen. Auch vom Anschlag auf das WTC 1993 war zu lesen, ebenso ohne größere Folgen. Diese Gebäude schienen kaum verwundbar. Umso größer der Schock, das Entsetzen, die Fassungslosigkeit. Am 11.9. und in den Tagen danach.
Ein eindrucksvoller Bericht. Ich kann mich an diesen Tag auch noch gut erinnern. Ich war damals beim Zivildienst beim Roten Kreuz, hatte offensichtlich nicht zu viele Fahrten eingeteilt und war so dank CNN im Aufenthaltsraum am Laufenden. Ganz im Gegensatz zu Dir in sicherer Entfernung, sodass die Ereignisse im TV etwas Irreales an sich hatten.
Danke für den Bericht und die Fotos!
Vielen Dank für den Bericht. Ich habe ganz ähnliche Erinnerungen, meine stammen vom 23.07.01 um ca. 11.30. Dort habe ich NY und die WTC auch zum ersten male kennengelernt. Ich habe ganz oben ebenso meine Nase an die Scheiben gehalten und dachte mir bei der Perspektive noch: Mensch, wenn das Ding umkippt… (Es wurde nach unten hin ja viel dünner).
Auf der Aussichtsplattform konnte man so herrlich auch den anderen Turm (mit der Antenne) erblicken. In Entfernung sah man die Flugzeuge von Newark ihre Warterunden fliegen, teilweise unterhalb meiner Höhe…
Ich war auch beeindruckt vom WTC. Umsomehr war ich (wieder zu Hause) geschockt, daß nur anderthalb Monate später diese Gebäude nicht mehr standen und mit ihnen 2-3 Tsd. Menschen den Tod fanden…
Und als wir die Türme zum ersten Mal ganz nah sahen, hab ich meine Freunde noch gefragt: „Wie werden die die jemals wieder los, am Ende ihrer Lebensdauer? Die müssten bei einer Sprengung ja halb Manhattan sperren…“
Das hängt mir bei jenen Freunden, die das damals gehört hatten – da unten am WTC-Plaza, drei Tage vor 9/11 – bis heute nach :-}
Auch ich habe meinen Urlaub in NYC verbracht, aber drei Jahre vorher. Als ich dann die Urlaubsfotos von damals heraus kramte, fiel mir auf, dass ich exakt am 11. September im WTC gewesen war. Bei Entgegennahme der Fotos oben unter der Aussichtsplattform gab es ein Mißverständnis mit der Bedienung. Das arme Mädchen bekam Ärger mit ihrer Vorgesetzten, die meinte, wir wären nicht freundlich genug bedient worden. Wir fürchteten, das Mädchen hätte durch uns seinen Job verloren. Heute hoffe ich für sie, dass es so war.
super doku. solche bilder mit eigenen geschichten dazu find ich viel eindrucksvoller als geschliffene hochglanz-berichte. jetzt stellt sich natürlich die frage: wohin verreist du als nächstes? ^^
Danke für die Bilder. Man ist heute ja nur die immer gleichen Szenen aus den Nachrichten gewohnt. Es ist Routine geworden.
Das Jahr 2001 sollte nicht wiederholt werden